Der Integrator

von D. Friedman, New York, aus dem Amerikanischen übersetzt von John Houston

Betrachtet man die Neue Musikszene im Deutschland des Jahres 2000, so bietet sich gemessen am Anspruch, ein äußerst graues, ja eintöniges Bild. Geradezu schablonenhaft werden Namen und damit verbundene, ästhetische Ausrichtungen gehandelt. Von den „Älteren“ bis „Alten“ Komponisten bleiben bloß Namen wie Cage, Nono, Ligeti, Kurtag und ein bisschen Henze.


Von der mittleren Generation Lachenmann und Rihm, Rihm und Lachenmann.
Eine erschreckende Einsinnigkeit gemessen am wirklichen Potential vorhandener Musik und deren Komponisten. Eine der Ursachen dieses deprimierenden Tatbestandes ist wohl jener tief im 19. Jahrhundert verwurzelte Originalitätsbegriff und dessen Interpretation, welcher Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen, als Prozess permanenten Fortschrittes versteht und so alle seitlichen Entwicklungen völlig ausklammert und negiert, obwohl doch genau dort oft Entscheidendes geschieht.

 

Die Verkürzung musikalischer Entwicklung auf den Avantgardebegriff ist von der Wirklichkeit historischer Wirkungen längst widerlegt. Ich möchte dies an einem Komponisten wie Volker David Kirchner versuchen aufzuzeigen. Als Kirchner in den siebziger Jahren mit seinem ersten musiktheatralischen Werk „Die Trauung“ internationales Aufsehen, einen geradezu sensationellen Erfolg, vor allem bei der Musikkritik verzeichnen konnte, sprach man von einer eminenten Begabung, welche dem neuen Musiktheater völlig neue Impulse zu geben vermag.


Sein zweites musiktheatralisches Oeuvre, das szenische Requiem „Die fünf Minuten des Isaak Babel“ wurden als endgültige Bestätigung dieses Versprechens gewertet. Beide Stücke wurden in Folge von vielen Opernhäusern nachgespielt, mit zunehmendem Erfolg, vor allem auch beim Publikum.

 

Und genau hier setzte dann auch jener in Deutschlands Publikationen so verbreitete Hang zu intellektueller Überheblichkeit ein, sehr vereinfacht ausgedrückt: was ankommt, kann nicht gut sein. Man begann, Kirchner nostalgische Tendenzen vorzuwerfen, eine tiefe Verwurzelung in der
Tradition, und schon war er mit dem Stempel versehen, ein heilloser Traditionalist zu sein. Ein ebenso falsches wie dummes Vorurteil. Zwar wurden seine Stücke auch weiterhin an hervorragender Stelle gespielt (Berliner Philharmoniker, Bayerische Staatsoper, New York Town Hall), aber die Angriffe wurden immer heftiger, ja teilweise sogar infam. So entstand zunehmend der schizoide Sachverhalt, dass seine Stücke, vor allem Kammermusik und Orchesterwerke, verhältnismäßig viel gespielt werden, meist dank der Initiative von Musikern oder einzelner Dirigenten, aber in den einschlägigen Publikationen gar nicht oder kaum Beachtung finden, nach der Devise, Unliebsames schweigt man am besten tot.

 

Erlebt man aber seine Stücke, und ich hatte das Glück einige Aufführungen zu erleben, dann wird einem erst wirklich klar, von welch einer dümmlichen Arroganz die Urteile oder besser Vorurteile geprägt sind. Wer einmal dieses atemlose Lauschen eines riesigen Auditoriums „erlebt hat, weiß wovon ich spreche.


Betrachtet man seine Partituren, so fällt als erstes ihre Klarheit und Durchsichtigkeit auf, ihre im wahrsten Sinne meisterliche Faktur, die in ihren Verflechtungen und Verästelungen ihresgleichen sucht. In ihren eruptiven Momenten hat diese Musik oft etwas Bestürzendes, gleicht einem gewaltigen Mahlstrom komplexer Ereignisse. In ihren zarten, schwebenden Linien und Flächen, gibt es Augenblicke soghafter Magie, deren Schönheit fast schmerzt.
Durch diese Musik laufen alle Zeitströme der Musikgeschichte und bleiben doch auf eine seltsame Weise unberührt. Sie trägt ein Amalgam in sich, das die schärfsten Gegensätze auf das Natürlichste zu verschmelzen weiß. In ihr vereinigen sich Reihentechnik mit Tonalem, Geräuschhaftes mit Melodischem, rasende Bewegung mit absolutem Stillstand, Lautes, Ruppiges, Verkantetes mit den Rändern des Schweigens. Eines bringt das Andere hervor, sich selbst und zugleich auch sein Gegenteil. Nichts von alledem verrät dieses transparente Notenbild. Man sieht dieser Musik nicht ihre Tiefendimension an, sie zeigt auf dem Papier lediglich völlig unspektakulär ihre handwerkliche Meisterschaft.

 

„Kirchner gehört für mich zu den interessantesten und außergewöhnlichsten zeitgenössischen Musikern. Er ist ein großer Integrator, und das unterscheidet ihn von den anderen. So möchte ich mit dem tautologischen Satz schließen: Seine Zukunft liegt in der Zukunft.